Zerknirschte
Sprüche ertönen derzeit vom Scherbenhaufen neoliberaler Gewissheiten.
Wef-Chef Klaus Schwab bekennt: «Das kapitalistische System passt nicht
mehr in die Welt.» Auch ein neoliberaler Hardliner wie Otmar Issing, der
ehemalige Chefvolkswirt der Europäischen Zentralbank (EZB), ist
ähnlicher Auffassung: «Die Idee einer sozialistischen Gesellschaft lebt
weiter. Und wird durch den Umgang mit der Finanzkrise befeuert.» Schon
vorher fragten sich der erzkonservative Thatcher-Biograf Charles Moore
und Frank Schirrmacher, Mitherausgeber der «Frankfurter Allgemeinen
Zeitung», ob die Linke mit ihrer Kritik des Kapitalismus nicht doch
recht habe.
Diese Aussagen verkürzen zwar nicht die politisch-kulturelle Distanz
zur traditionellen sozialistischen Linken, zu den Gewerkschaften oder
gar zu den Kommunisten. Doch wenn nun die protestierende Occupy-Bewegung
am Erzvater der neoliberalen Konterrevolution, Friedrich August von
Hayek, Gefallen äussert, steht eine Einladung zum Wef 2013 ins Haus,
nachdem in diesem Jahr die WOZ vom Wef ausgeladen worden war. So ändern
sich die Zeiten.
Der Zusammenbruch von Lehman Brothers am 15. September 2008 und das
nachfolgende Finanzbeben haben den neoliberalen Glauben ins Wanken
gebracht, freie Märkte könnten die lasterhafte Gier von ManagerInnen in
öffentliche Tugenden und Wohlstand verzaubern. So jedenfalls
argumentierte mit überbordendem Optimismus Bernard de Mandeville in
seiner «Bienenfabel» im Jahr 1701. Doch mehr als 300 Jahre später
verwandeln sich «private vices», die privaten Laster, nicht mehr in
«public benefits», in öffentlichen Wohlstand. Die
neoliberal-optimistische Weltsicht, dies vermitteln Schwab, Issing,
Moore und Schirrmacher, ist nicht mehr zeitgemäss. Sie wirkt nur noch
peinlich.
Die Tragödie erfüllt sich
Die Tragödie, die von den AkteurInnen des globalen Finanzsystems
aufgeführt wird, ist unaufhaltsam. Das Geld des Marktes ist zum Skandal
geworden. Waren auf dem Markt werden gegen Geld getauscht, das ist
einfach und klar. Geld selbst wird zur Ware, wenn Geldvermögensbesitzer
ihr Geld ausleihen und so Schuldnerinnen kreieren. Es entstehen
Gläubiger-Schuldner-Beziehungen, und Schuldner müssen den Schuldendienst
leisten, zu dem sie vertraglich verpflichtet sind. Das ist ein
kategorischer Imperativ, der sich nicht vom «bestirnten Himmel über mir
und dem moralischen Gesetz in mir» (Kant) herleiten lässt, sondern eher
aus Alberichs Nibelungenwelt der Schatzsucher und Geldscheffler stammt.
Geld muss Junge kriegen, kritisiert Aristoteles, weil an der schweren
Geburt einzelne Menschen und ganze Gesellschaften zerbrechen können. Die
Tragödie des Geldes erfüllt sich.
Diese Erfahrung müssen auch die Europäerinnen und Europäer heute
machen. Konsterniert beobachten sie die Eurokrise, die Griechenland
immer näher an den Abgrund bringt und demnächst vielleicht auch Irland,
Portugal und selbst Spanien und Italien. Aber diejenigen, die entweder
auf der Gläubigerbank sitzen oder einen tragbaren Schuldendienst zu
leisten haben, denken, sie seien vom griechischen Elend nicht betroffen.
Dabei ist die gegenwärtige Krise nicht die erste Finanz- und
Wirtschaftskrise seit Mitte der siebziger Jahre, seit jenem
«revolutionären Jahrzehnt», als die Nachkriegszeit mit keynesianischem
Staatsinterventionismus, dem System fester Wechselkurse, regulierten
Finanz- und Devisenmärkten, billiger Energieversorgung und der
Vollbeschäftigung mit formeller, «guter» Arbeit zu Ende ging.
Auf den liberalisierten und deregulierten Finanzmärkten konnte die
Spekulation die Geschäfte in die Hand nehmen und eine Sequenz von
Schulden- und Finanzkrisen auslösen: von der Schuldenkrise der
Entwicklungsländer in den achtziger Jahren zur Finanzkrise der
Schwellenländer ein Jahrzehnt später, zur Krise der New Economy in den
USA in den Nullerjahren, zur Subprime-Krise 2007, die in eine schwere
Bankenkrise überging, die ihrerseits zur europäischen
Staatsschuldenkrise führte, weil die Banken ja durch die Staaten
gerettet wurden.
Es braucht ständig neue Schuldner
Die Krisen waren bislang regional oder auf bestimmte Sektoren der
Ökonomie begrenzt, auch wenn sie Auswirkungen auf alle Welt hatten. Doch
die europäische Krise ist auch eine Währungskrise geworden. Dafür haben
schon die Ratingagenturen gesorgt. Daher betrifft sie auch diejenigen
Länder, deren Regierung und Bevölkerung sich auf der sicheren Seite
wähnen. Eine Währungskrise nämlich existiert immer im Plural und löst
daher hegemoniale Konflikte aus. Und die können gefährlich sein.
Der moderne Kapitalismus wandelt sich zu einem finanzgetriebenen
Kapitalismus. Sicher, alle ökonomischen Überschüsse stammen aus der
«realen Wirtschaft», und sie werden von ArbeiterInnen und Angestellten
produziert. Aber diese Überschüsse sind (am Sozialprodukt gemessen) –
wie die durchschnittlichen wirtschaftlichen Wachstumsraten auch –
kleiner geworden. Was man dann als produzierten Mehrwert nicht
herausholen kann, wird im finanzgetriebenen Kapitalismus Schuldnern in
der Gestalt des Schuldendienstes mit Unterstützung des Staats und
mithilfe internationaler Institutionen abverlangt. Heute setzt die
«Troika» aus EU-Kommission, EZB und IWF die Daumenschrauben an, um
Schuldner zum Schuldendienst zu zwingen.
In den Krisen werden auch Geldvermögen vernichtet, doch nicht in
solchem Ausmass, dass nicht eine neue Schuldenrallye losgehen könnte. Es
müssen allerdings immer neue Anlagesphären gefunden werden, wo
InvestorInnen ihr Kapital renditeträchtig unterbringen können. Es
müssen also neue Schuldner her. Eine Zeit lang geht das gut – so lange,
wie der Schuldendienst aus den real erzeugten Überschüssen finanziert
werden kann. Doch die Verschuldung hat die Tendenz zu wachsen, wenn sie
sich der Marge nähert, an der die Tragfähigkeit fraglich wird. Denn dann
steigt das Risiko, und jede Refinanzierung wird teurer – bis diese wie
im Falle Griechenlands unbezahlbar wird. Dann gnade Gott den Schuldnern.
Sparen wird ihnen abverlangt, bei allen Posten des Staatshaushalts,
damit möglichst viel übrig bleibt für den Schuldendienst. Der
Maastricht-Vertrag von 1992 hat bei den Defizitkriterien für den
Staatshaushalt nicht zwischen Primärbudget, in dem alle Staatsausgaben
mit Ausnahme derjenigen für den Schuldendienst verbucht werden, und dem
Sekundärbudget des Schuldendiensts unterschieden. Der Staatshaushalt
befand sich ganz in der mehr oder weniger souveränen Verfügung der
Regierungen, so wie es in einem demokratischen Staatswesen sein sollte.
Diese Regel versuchen die Anwälte der Gläubigerinteressen in der EU,
allen voran jene der Troika und der deutschen und französischen
Regierung, nun zu revidieren. Sie deklarieren das Sekundärbudget als
prioritär und das Primärbudget bestenfalls als sekundär: Zuerst kommt
der Schuldendienst, einzuzahlen auf ein Sonderkonto, auf das die
Regierungen der Schuldnerländer keinen Zugriff haben. Dafür soll nach
deutschen Vorstellungen ein Sparkommissar sorgen. Der ist zwar abgelehnt
worden, doch die Arroganz des Klassenprimus bleibt: «In Europa wird
wieder deutsch gesprochen» (CDU-Fraktionschef Volker Kauder). Die
Anwälte des Geldes pfeifen auf das europäische Integrationsprojekt, an
dem mehrere Generationen gewirkt haben. Sie stellen es zur Disposition,
den Schuldendienst an die Banken nicht.
Sparen als Eingriff in soziale Rechte
Auch im mittelalterlichen Schuldturm gab es kein Pardon, auch nicht
bei den «Kapitulationen», die dem Osmanischen Reich von den
Gläubigernationen im 19. Jahrhundert bis zu dessen finaler Pleite und
dem historischen Verschwinden abverlangt wurden. Bei der Zerstörung
Jugoslawiens in den neunziger Jahren spielte die Gewalt des Geldes
ebenfalls eine böse Rolle. Der Schuldendienst und die nationalistische
Frage, wer im jugoslawischen Vielvölkerstaat dafür verantwortlich
gemacht werden und daher zahlen soll, sprengten das Staatswesen in einem
mörderischen Krieg.
Doch trotz der historischen Erfahrungen sind die Gläubigerbanken und
ihre Regierungen gnadenlos – und zugleich ideenlos. Sie glauben nämlich
erstens, die Schuldner seien an den Schulden schuld. Das wusste schon
Aristoteles besser: Geld ist immer eine soziale Beziehung.
GläubigerInnen oder GeldvermögensbesitzerInnen brauchen unbedingt
Schuldner, um ihr Geld renditeträchtig anlegen und
GeldvermögensbesitzerInnen bleiben zu können. Schuldner verhalten sich
also völlig systemkonform, wenn sie Schulden machen. Ohne Schulden würde
das auf Geld und Kapital beruhende System gar nicht funktionieren
können.
Zweitens machen sich die Sparkommissare und ihre Auftraggeberinnen zu
Bütteln der Finanzmärkte und derjenigen Gestalten, die dort das Sagen
haben. Eigentlich weiss man heute, dass die FinanzakteurInnen eine kurze
Sicht auf die Ereignisse pflegen. Schnelle Mitnahmen im Turbohandel
versprechen den SpekulantInnen schöne Schnäppchen. Politisches Gestalten
hingegen verlangt eine langfristige Perspektive, Geduld und Augenmass
beim Abwägen von Interessen. Max Weber hat ja recht: Nur so lassen sich
dicke Bretter bohren. Die Hektik allerdings, mit der Griechenland und
morgen vielleicht Portugal, Irland oder Spanien und Italien der
Schuldendienstpresse überantwortet werden, um Bankeninteressen und
GeldvermögensbesitzerInnen zu bedienen, ist geeignet, das langfristig
angelegte europäische Einigungsprojekt zu zerstören.
So wird drittens die Ungleichheit, die sowieso in mehreren
Jahrzehnten neoliberaler Dominanz so sehr zugenommen hat, dass sie nicht
mehr zu leugnen ist, auf die Spitze getrieben. Die OECD hat dies
kürzlich in der Studie «Warum die Ungleichheit immer weiter steigt»
statistisch belegt. Es geht hier nicht mehr um «Sparen» – ein
Euphemismus für grausame Eingriffe in das Alltagsleben einer
Gesellschaft, in soziale Rechte auf Versorgung mit öffentlichen Gütern
und Diensten, in die Einkommensverteilung durch Lohn- und
Gehaltskürzungen, in Lebensstandard und Lebenszuschnitt von Millionen
zugunsten einiger MillionärInnen. Es geht um Räume politischer
Gestaltung, die durch das Sparverlangen so eingeengt werden, dass nicht
nur die soziale Substanz einer Demokratie aufgelöst wird, sondern auch
formaldemokratische Verfahren leerlaufen und nichts mehr bewegen können.
Die Finanzkrise ist längst zur Demokratiekrise geworden.
Griechenland mag pleitegehen. Für den Fall, so behaupten die
BankenretterInnen, haben sie einen «Plan B». Es ist zu hoffen, dass
dieser bestenfalls ein Bluff ist. Denn eine produktive Lösung der
Eurokrise ist weder der Troika noch den europäischen Regierungen
zuzutrauen: Das wäre ein radikaler Schuldenschnitt, eine «seisáchtheia»,
eine Lastenabschüttelung wie im Athen von Solon im Jahr 594 vor unserer
Zeitrechnung. Anders als vor 2600 Jahren müssten heute auch die
globalen Finanzmärkte reguliert werden, damit die Sequenz von
vernichtenden Schuldenkrisen nicht fortgesetzt wird. Die nächsten
Anlagefelder sind ja schon im Visier der Geldvermögen besitzenden
SpekulantInnen: Rohstoffe, Nahrungsmittel, Energieträger. Das
Verschuldungselend wandert dann von Europa nach Afrika, Asien,
Lateinamerika. Die Schuldenrallye geht weiter.